Darmstädter Tagblatt, 12.09.1964, Dr. Maass im Gespräch mit dem Maler Carl Gunschmann

Die Kunst ist schwer – seit eh und je

Carl Gunschmann: "Die Neue Darmstädter Sezession muß auch schockierende Werke ausstellen"

Carl Gunschmann, alter Darmstädter, begann schon mit 15 Jahren zu malen, war nach dem Ersten Weltkrieg aktive Kraft der „Dachstube“ und Mitbegründer der „Darmstädter Sezession“. Seit 1956 ist er Präsident der „Neuen Darmstädter Sezession“.

Dr. Maass: Herr Gunschmann, in Verbindung mit Kunst von neuen Wegen zu sprechen ist sehr problematisch. Wir wissen, Sie so gut wie ich, daß die neuen Wege, die die Kunst nach diesem Krieg gegangen ist, im Grunde genommen alte Wege sind, die schon vor dem Ersten Weltkrieg im Grundsätzlichen gefunden wurden. Und doch standen 1945 die Künstler vor einer neuen Situation: die Freiheit des Schaffens war wieder hergestellt. Seitdem gibt es auch wieder eine Neue Darmstädter Sezession, wie hat sie begonnen? 

Kunst in Freiheit

Carl Gunschmann: Ich selbst kam erst 1949 hierher zurück. Nach Aussagen von Freunden dürfte es wohl so gewesen sein, daß einzelne führende Leute, die vor 1933 bereits in Darmstadt lebten, bald nach 1945 die Initiative zur Neugründung ergriffen haben. Soweit ich mich erinnern kann, waren dies unter anderen: der Kunstmaler Thesing, der Journalist Kurt Heyd, der verstorbene Musiker Dr. Steinecke und der Maler Willy Hofferberth. Die ersten Ausstellungen der neuen Sezession nach ihrer Neugründung fanden in Darmstadt und nächster Umgebung in Schulen und anderen Behelfslokalen statt. Nach dem Wiederaufbau der Mathildenhöhe stellten wir dort aus. Unsere erste Ausstellung mit ausgesprochen repräsentativen Charakter war die Ausstellung „Das Menschenbild unserer Zeit“, die im Rahmen des Darmstädter Gesprächs stattfand.

Wir hatten in unserer Stadt das Glück, daß unser erster Oberbürgermeister Ludwig Metzger und der Erste Bürgermeister Reiber um die Wichtigkeit der Kultur in der menschlichen Gesellschaft wussten und daß sie sich dafür einsetzten, die kulturellen Belange wieder mit in den Vordergrund zu bringen. Der auf Metzger folgende Oberbürgermeister Dr. Ludwig Engel mit seinem Magistrat nahm diese Tradition auf. Die Stadt stellt uns Mittel zur Finanzierung unserer Ausstellungen zur Verfügung, die – ich will nicht übertreiben – da sie weit über Darmstadts Grenzen hinaus Ansehen genießen, und auch dazu beitragen, die kulturelle Bedeutung unserer Stadt zu betonen.

Dr. Maass: Sie haben, in dem Sie den Namen von Dr. Steinecke ins Gespräch brachten, bereits angedeutet, daß zur Neuen Darmstädter Sezession nicht nur Maler gehören. Auch das ist alte Darmstädter Tradition.

Carl Gunschmann: Die Darmstädter Sezession wurde 1919 gegründet, eigentlich schon 1916, und zwar unter Leitung von Kasimir Edschmid. Wir waren damals alle sehr jung und mit Edschmid befreundet. Unser Bestreben war, gleichgesinnte Maler, Graphiker, Bildhauer, Musiker, Architekten, Schriftsteller und Theaterleute in unsere Vereinigung aufzunehmen. So gehörten u. a. dazu: Anthes, Beckmann, Habicht, Peppi Würth, Hartung und die Politiker Carlo Mierendorff und Theo Haubach. Auch heute gehören der Neuen Darmstädter Sezession neben der bildenden Künstlern, Musiker, Architekten, Theaterleute und Schriftsteller an. Kasimir Edschmid ist der Ehrenpräsident der Neuen Darmstädter Sezession.

Dr. Maass: Daß die Stadtverwaltung Ihnen nach 1945 finanzielle Hilfe zukommen ließ, darf man als neuen Weg bezeichnen?

Carl Gunschmann: Ja. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Situation für Künstler außerordentlich schwierig. Vor allem für die Künstler, die der Darmstädter Sezession angehörten. Diese Künstlervereinigung war damals etwas absolut Neues. Wir mussten Ausstellungen machen ohne öffentliche  Mittel, während wir heute eine Garantiesumme für die jeweiligen Ausstellungen erhalten. Wir sind bisher mit dem Magistrat, vor allen Dingen mit dem jetzigen Kulturdezernenten, Herrn Sabais, glänzend ausgekommen. Ich glaube aber auch, daß die Leistungen der Sezession als Gesamtheit diese Förderung durch die Stadt rechtfertigt.

Dr. Maass: Sie stellen ja auch außerhalb Darmstadts aus.

Carl Gunschmann: Nach dem Zweiten Weltkrieg u. a. in Wien, Bremen, Singen, Kassel, Wiesbaden, Hamburg und Oldenburg. Sie dürfen nicht vergessen, daß Vorbereitung und Abwicklung von Ausstellungen neben der Finanzierung einen außerordentlichen Zeitaufwand, Energie und sehr viel Kleinarbeit erfordern. Es war schon allerhand, daß wir es fertig brachten, innerhalb von einem halben Jahr drei Ausstellungen zu arrangieren.

Der Nachwuchs

Dr. Maass: Dabei dürfte die Sezession im Bundesgebiet umso interessanter sein, als sie nicht nur aus Darmstädter Künstlern besteht.

Carl Gunschmann: Wir haben jetzt 60 Mitglieder und sind eine überregionale Künstlervereinigung, die Persönlichkeiten von Rang und Namen in ihren Reihen zählt. Wir können jederzeit höchst qualifizierte Ausstellungen unserer eigenen Mitglieder veranstalten, ohne gezwungen zu sein, erst durch Einladungen von bedeutenden Gästen das Niveau zu heben. Trotzdem werden wir ab und zu – wie sich die Gelegenheit dazu ergibt, und wie uns die Gelder zur Verfügung stehen – unsere Ausstellungen durch irgendwelche Sonderschauen zu erweitern versuchen. Ich denke dabei wesentlich an die Heranziehung junger, noch unbekannter Künstler.

Dr. Maass: Aus ihrer Mitte könnte sich die Sezession dann immer wieder erneuern.

Carl Gunschmann: Gewiss, denn es hat keinen Sinn neue Gruppen aufzumachen, die im Grunde doch dasselbe wollen, und auch machen müssen. Die Sezession muss ihre Ausstellungen aktivieren, Dinge bringen, die aktuell sind. Sie kann nicht nur Kunst zeigen, die längst ihren Wert bewiesen hat, und sich dem jungen Kunstschaffen gegenüber ablehnend verhalten. Auch das, was schockiert, muss gezeigt werden, wenn es gut ist. Entscheidend ist der künstlerische Elan und dann die Qualität. Qualität, ein Wort! Qualitäten festzustellen bei einem Bild oder einer Plastik. Und doch spürt man, wenn etwas dahinter steckt, ob es nun perfekt gemacht ist oder nicht. Die Perfektion spielt bei der echten Qualität keine Rolle.

Dr. Maass: Man spricht ja heute viel davon, daß wir auf dem Nullpunkt der Entwicklung angekommen seien. Da heißt es abzuwarten, was sich in den nächsten Jahren zeigen wird.

Carl Gunschmann: Ich bin zwar kein Prophet. Aber warum soll die Aktivität der Jungen weniger groß sein als die unsrige es war. Sie haben es unter Umständen etwas schwerer, ihre Vorbilder zu vergessen. Aber ich persönlich sehe eigentlich nicht schwarz, was die wirtschaftlichen Möglichkeiten angeht.

Ateliers - damals

Dr. Maass: Damit rühren wir an die Grundlagen der künstlerischen Existenz. Beginnen wir mit dem Raum. Zur Darmstädter Kulturpolitik gehörte es seit langem, ansässigen Künstlern – in gewissem Umfang – Ateliers zur Verfügung zu stellen.

Carl Gunschmann: Ja, wo jetzt die Werkkunstschule steht, war vor dem Krieg ein großes Atelierhaus, das dem Großherzog gehörte. Es war mit eine der Leistung der Sezession, daß sie es fertig brachte, dieses Haus ausschließlich für Künstlerateliers zur Verfügung gestellt zu bekommen. Übrigens zog ich als erster dort ein. Nach mir zogen dann unter anderem ein: Edschmid, Habicht, Anthes, Thesing, Volk. Für uns waren diese Ateliers sehr wichtig, denn auch damals – nach dem Ersten Weltkrieg – waren Wohnungen und Ateliers knapp. Im Übrigen waren die gesamten Atelierräume besonders schön. Außer in diesem Haus waren auch noch im Ernst-Ludwig-Haus Ateliers.

Dr. Maass: Und wie steht es heute?

Carl Gunschmann: Als das zerstörte Atelierhaus wieder aufgebaut wurde, zog dort die Werkkunstschule ein, in das wieder erstellte Ernst-Ludwig-Haus die Akademie für Sprache und Dichtung. Außerdem bezog einen Teil des Ernst-Ludwig-Hauses der verstorbene Architekt Prof. Bartning.

Dr. Maass: Das war immerhin ein Künstler.

Carl Gunschmann: Ja, aber sonst ist die Künstlerkolonie heute kein Künstlerviertel mehr, da nur noch 2 - 3 Künstler dort wohnen.

Dr. Maass: Wissen Sie ungefähr wieviel Ateliers die Stadt dann gebaut hat?

Carl Gunschmann: Das kann ich schwer sagen. Hier am Kleinen Woog wurden durch den Arbeiterbauverein drei Ateliers erstellt. Außer meinem großen, schönem Atelier, das Sie ja kennen, noch zwei weitere in Dachgeschossen, die zwar klein, aber schön sind. Die Ateliers sind preiswert. Vom Arbeiterbauverein wurden außerdem noch in der Gerviniusstraße drei, in der Soder- und Karlstraße jeweils ein gebaut. Dann hat – soviel mir bekannt ist – die Wiederaufbau GmbH auf dem Grundstück des ehemaligen Sozialamtes (jetzt ist wohl das Rote Kreuz dort) zwei größere Ateliers errichtet, nämlich in der Wolfskehlstraße.

Dr. Maass: Nun ist ja die Entwicklung dahin gegangen, daß eine Reihe von Künstlern durch den behördlich finanzierten „Kunst am Bau“ ihre Lage so verbesserte, daß sie selbst bauen konnten.

Carl Gunschmann: Ja. Einigen Künstlern ist dies gelungen. Dadurch daß sie Kunst-am-Bau-Aufträge hatten – unmittelbar nach der Währungsreform war ja diese Möglichkeit viel größer als jetzt – verdienten sie sehr gut und konnten sich eigene Atelierhäuser bauen. Die Nachfrage nach Ateliers bleibt sehr groß. Mir scheint dies ein ausgesprochen schwieriges Problem zu sein. Die Baukosten für Ateliers sind heute genauso hoch wie für Wohnungen. Aber Ateliermiete darf nicht teuer sein, denn die meisten Künstler können nicht viel ausgeben. Es gibt sicher sehr viel Künstler die keine Ateliers haben.

Die Käufer

Dr. Maass: Und wie steht es heute mit dem Verkauf von Kunstwerken?

Carl Gunschmann: Die Käuferschicht ist heute eine andere als früher. Die Sammler kauften früher aus Liebe zur Malerei und Plastik sich die Kunstgegenstände, die ihrem Lebensgefühl entsprachen, ohne dabei daran zu denken, ob diese Dinge nun Tausende von Mark wert sind. Das hat sich heute – glaube ich – geändert, auch bei den jüngeren Leuten. Beim Kauf von Kunst spielt die Überlegung eine Rolle, ob sie wertbeständig ist, ja ob sie nicht sogar wertsteigernd ist. Diese Überlegung hat früher, soviel ich weiß keine – oder nur sehr selten – eine Rolle gespielt. Ich habe eine Reihe von Sammlern gekannt, von denen ich dies mit gutem Gewissen behaupten kann.

Dr. Maass: Außerdem ist der Kreis der Interessenten wohl kleiner geworden?

Carl Gunschmann: Ja, außergewöhnlich klein. Heute gewinnt man den Eindruck, daß die Käufer im Grund eigentlich auch Artisten sind, für die die Beschäftigung mit Kunst nicht nur Liebhaberei ist.

Dr. Maass: Dabei spielt dann das Geld auch eine Rolle…

Carl Gunschmann: Natürlich! Wenn ich ein Bild z. B. für 2000 Mark kaufen will, muss ich dieses Geld selbstverständlich haben. Aber die Käuferschicht, die dieses Geld heute hat, kauft keine Kunst. Kunst wird heute fast ausschließlich von Sammlern gekauft. Dabei gab es auch früher Leute, die sehr schöne Bilder hatten.

Dr. Maass: Man kann nur hoffen, daß die alten Wege eines Tages wieder die neuen werden.

Carl Gunschmann: Ich halte das nicht für ausgeschlossen! Es wird immer gemalt werden, es wird immer gebildhauert werden, und es wird immer Musik gemacht werden, genauso wie immer geschrieben wird.

Transkription, Quelle: Darmstädter Tagblatt, 12. September 1964, mit freundlicher Genehmigung der Echo Zeitungen GmbH